Beschreibung
Waldgänge
Ingolf Natmessnig
„Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“, auf kaum jemanden treffen Goethes Worte so zu, wie auf Ingolf Natmessnig. Er ist Naturwissenschafter, Philosoph, Poet – vor aller Theorie aber kommt bei ihm immer das Beobachten. Was sich unter freiem Himmel abspielt, interessiert ihn. Natmessnig ist neugierig, und er gebraucht zuallererst seine Sinne, um den Geheimnissen und Rätseln in der Natur auf die Spur zu kommen. Seine Beobachtungen zeichnet er akribisch auf; dann macht er sich seine Gedanken: zu einer farbenprächtigen Spinne, zur scheuen Sandviper, zum steinigen Lebensraum des „Gräflach“, zum apokalyptischen Leben im Bergtümpel und zu den im Verborgenen lebenden Haselhühnern rund um die Böschung eines Forstweges.
Die „Waldgänge“ sind das faszinierende Protokoll eines Naturforschers, der seine Aufzeichnungen offenlegt. Sie führen ihn in südlich anmutende Gebiete unseres Landes: dorthin, wo nicht nur Hopfenbuche und Manna-Esche zu Hause sind, sondern auch Sandviper, Skorpion und anmutige Spinnen. Ingolf Natmessnig schaut diesen von alters her geächteten Tieren als Waldgänger über die Schulter, schaut ihnen ins Auge, schaut ihnen in die Seele. Mit seinem breiten Fundus an mythologischem Wissen, der Freude am Erzählen von Natur-Geschichten und einem ständig mitschwingenden feinen Witz spürt er auf, was es in der Natur alles zu entdecken gibt, wenn man nur genau genug hinsieht. Wie etwa die Erkenntnis, dass alles Leben auch Jagd ist, wenn der Bussard über der Sandviper kreist, während diese gerade eine Maus jagt. Oder, die vielleicht entscheidende Botschaft der „Waldgänge“, in Ingolf Natmessnigs eigenen Worten: „Am Ende werden wir nur das bewahren, das wir sehen; je mehr wir aber sehen, desto mehr müssen wir dazu denken können, und je mehr wir dazu denken können, desto mehr werden wir es achten.“
Ingolf Natmessnig hat, wie oben erwähnt, den Sandvipern jahrelang über die Schulter geschaut, manchmal auch direkt ins Auge. Was er dabei gesehen hat, liest sich in den „Waldgänge“ so:
… Am nächsten Morgen, noch bevor das erste Sonnenlicht die Manna-Esche ober mir streift, sitze ich wieder am Rand der Schlangengrube. Mit dem Erscheinen des Sonnenlichtes wird eine Prachtspringspinne aktiv. Doch wo ist die Viper? Also doch vergrämt! Es geht gegen Mittag, sie müsste schon längst zu sehen sein. Ich weiß ganz genau, dass die Viper irgendwo vor mir liegt, und doch sehe ich sie nicht! Was ich sehe, ist im Moment ein Muster aus unregelmäßigen Farbtönen, das sich verwirrend mit den huschenden Lichtsprenkeln zwischen dem Laub und den Schattenmustern eines Farnes mischt, doch dann steigt urplötzlich die Form einer Schlange aus diesem Chaos in den geordneten Zustand des Bewusstseins auf – oh wunderbarer Kosmos –, und so verwirrend sind die Muster, dass ich eine zweite Viper, die regungslos neben mir liegt, beinahe übersehe. Lässig, wie sie daliegt im Laub.
Der Hinterkopf der Gabunviper ist gefärbt wie ein Blatt. Ein wahrer Tarnungsmeister hingegen ist die Schlegel-Lanzenotter, die bis zu einem halben Dutzend unterschiedlicher Farbtöne annehmen kann, vom Gelb der Früchte bis zum Grün der Blätter, nichts, an das sich diese Otter nicht perfekt anpassen würde! Dieses Vipernweibchen hier steht in ihrer Tarnkunst der Gabunviper in nichts nach. Das Braun deckt sich perfekt mit dem Braun der dürren Blätter des Haselstrauches. Ich bewundere die Sandviper, die Schuppen erstrahlen frisch. Ihr Körper ist makellos. Sieht sie mich? Ich sitze einen Meter entfernt auf dem moosbewachsenen Stein. Ihr starrer Blick mit den schlitzförmigen Pupillen verrät nichts, doch die Botschaft ist kalt, klar und unmissverständlich: Rühr dich nicht! Mach keine krumme Bewegung! Schlangen sind alles Mögliche, nur nicht falsch. Ich fixiere weiterhin ihren Kopf, starre in ihr Auge, sieht sie mich? – Nein, sie spürt mich, sie weiß ganz genau, dass ich da bin! Sie weiß, dass ich da bin, weiß es schon längst, natürlich weiß sie das, es liegt etwas in ihrem Blick, das wir nicht kennen, niemals erfassen werden, vergleichbar einer Sphinx. Sie weiß, dass ich hier bin, gut so. Ich atme durch, lehne mich an die Esche, ich habe Zeit, aber ihre Zeit ist eine andere. Sie kommt aus einer anderen Welt, da gibt es keine Zeit, und wenn es doch eine gibt, dann ist es eine andere Zeit, eine beinahe unendliche Zeit. Geduld, meine Freundin, Geduld! Wir werden für eine kurze Zeit Freundschaft schließen. Sie sieht das naturgemäß anders und verschwindet. Die Pupille der Viper ist zu einem schmalen vertikalen Schlitz verengt.
Tagaktive Schlangen haben runde Pupillen wie die Nattern, nachtaktive Arten haben vertikal gestellte elliptische Pupillen, die sich zu einem schmalen Schlitz schließen und so die außerordentlich empfindliche Netzhaut vor dem Tageslicht schützen können. Die natürliche Selektion hat diese Pupillenform „designed“, sehr viele fakultativ tagaktive Schlangen – wie unsere Vipern – haben „Katzenaugen“ …
Naturgeschichten über Haselhühner, Sandvipern, Spinnen, Skorpione. – Faszinierendes Protokoll eines Naturforschers und Jägers.
272 Seiten, mehr als 100 Farbfotos.
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